Sorglosigkeit in Zeitlupe

Milbertshofen, Pragerstraße 44-46, 25. Mai 2020

Sorglosigkeit in Zeitlupe
Durch das verregnete Busfenster sieht man Krähen auf einem Baum, dahinter die zitternde Horizontlinie, sie gleicht einer Menschenkolonne, die sich auflöst, als der Bus am Baum vorbeifährt. Die Menschen sind verstreut auf den umliegenden Feldern wie Steine. Es sind Steine. Drena vergräbt das Gesicht in der Jacke ihres Vaters, im vertrauten Schweißgeruch.
Als ihr Vater die Pässe vorzeigt, sagt der Beamte, Drena solle ihn anschauen. Sie weigert sich. Die beiden Männer lachen. Drenas Vater hat Angst, seine Finger reiben schnell aneinander.
Gleich nachdem sie München erreicht haben, gehen sie vom Busbahnhof in eine orthodoxe Kirche. Drenas Vater will, dass sie im fremden Land als Erstes ihre Muttersprache hört. Es riecht nach Weihrauch und nasser Kleidung, Männerstimmen singen etwas, aber nur ein paar Worte erkennt Drena als Serbisch: Gospodi pomiluj, Herr, erbarme dich unser. Sie spürt Vaters Hand auf dem Nacken, öffnet die Augen und sieht die knorrigen Finger der alten Männer um sich herum. Ihr Vater flüstert etwas, scheint zu beten, seine Finger sind zerbissen und wund.
Danach gehen sie ins Kino. Die großen, bunten Bilder würden Drena beruhigen, sagt ihr Vater. Sie beobachtet die regungslosen Köpfe der Zuschauer vor ihr, die nach vorne starren, und versteht kein Wort von dem, was die Menschen auf der Leinwand sagen. Das Bild wird weiß und die Stimmen flauen ab. Ein Moment der vollkommenen Stille. Der nicht aufhört.
„Nur eine Nacht müssen wir im Heim verbringen, danach ziehen wir zu einer alten Dame“, erzählt Drenas Vater. „Sie ist eine Bekannte von einem Freund von mir. Wir können bei ihr umsonst wohnen, nur ab und zu müssen wir ein wenig bei der Gartenarbeit helfen. Und beim Beten mitmachen, sie geht fast jeden Tag in die Kirche, in eine orthodoxe Kirche. Und in der Nähe ist der Tierpark, mit Tigern und Bären, Löwen, sogar Mäusen. Wir kaufen uns eine Maus.“
Drena wird es übel, es ist ihre erste U-Bahnfahrt. Zur Beruhigung zählt sie immer wieder ihre Schuhösen. Bald steigen sie aus. Nach ein paar Schritten übergibt Drena sich.
„Das ist bloß die Anspannung“, sagt ihr Vater, „Gleich geht es dir besser.“
Im Schatten zwischen den Lagerhallen am Straßenrand tobt der Wind. Ein Kaninchen schießt an ihnen vorbei und versteckt sich unter einem Wagen.
„Das hätte die Oma schon längst mit der Axt erwischt und uns ein Festessen gemacht, stimmt‘s?“, zwinkert der Vater Drena zu.
Am Ende der Straße, gegenüber vom BMW-Gelände, stehen zwei Wohncontainer auf einer Wiese.
Die meisten Türen sind offen, der Durchzug rauscht im Ohr. Zwei Frauen plaudern am Eingang des Gemeinschaftsbads, es riecht nach Chlor. Ein paar Jungs versuchen, mit dem Ball die freigelegten Neonröhren zu treffen.
Als sie die neue Bleibe betreten, bleibt Drenas Schuh auf dem Boden kleben. Ihr Vater reißt ihn los und untersucht die Betten. Die Matratzen sind voller Essensreste. Drena und ihr Vater legen sich auf die eine beim Fenster. Es dämmert schnell, Hana betrachtet die Tür. Über der Türklinke klebt das Bild von Disney-Pinocchio, sein Hut ist halbabgerissen.
„Hör auf!“, brummt eine Frauenstimme im Nachbarzimmer, auf Bosnisch. Es stinkt nach Schweiß, Drena juckt es überall. Aus der Hosentasche holt sie die Gabel, die sie davor mit dem übrigen Geschirr und den Decken bekommen haben, und legt sie griffbereit neben sich. Ihr Vater zieht die Decke über ihre Köpfe.
„Nur eine Nacht müssen wir hier verbringen, danach ziehen wir zu der alten Frau, nur eine Nacht, dann gehen wir ins Kino“, murmelt er. Sein Atem riecht nach Alkohol. Sie hat ihn die ganze Zeit im Auge behalten und er hat nichts getrunken, seit Stunden, nicht einmal Wasser. Wahrscheinlich hat er es gemacht, während sie vor dem Schaufenster der Tierhandlung gestanden sind. Die langsam wogenden Flossen im Aquarium haben Drena fasziniert, die Sorglosigkeit in Zeitlupe. Auch die zartgrünen Wasserpflanzen.
Sie sinkt schnell in den Schlaf. Der säuerliche Atem ihres Vaters stört sie, aber seine Stimme ist weich, und es klingt, als würde ihm die eigene Zunge beim Sprechen im Weg stehen.

Text: Denijen Pauljević

Fotos: Martin Noweck und Denijen Pauljević

Willkommen

Hbf München, Schalterhalle, 13. November 2015
Gespräch: Christine Umpfenbach mit Christian Höss, freiwilliger Helfer

Wie fing die Arbeit der freiwilligen Helfer am Hauptbahnhof München an?
Angefangen hat es während einer Demo gegen Pegida. Es wurde bekannt, dass Rechtsradikale unterwegs sind, um Geflüchtete am Hauptbahnhof auf ihre Art und Weise „Willkommen“ zu heißen. Wir haben versucht die abzuschirmen.

Welcher Tag war das?
Es war ein Montag in der letzten Augustwoche 2015. Wir waren also am Hauptbahnhof und haben dann festgestellt, dass es keine Getränke und kein Essen für die ankommenden Geflüchteten gibt. Dann ist einer losgelaufen, um was zu holen, dann der nächste…

Welche Leute waren das?
Das waren hauptsächlich Leute aus der linken Szene, auch aus der Antifa. Die haben am Anfang alles in die Wege geleitet. Dann wurde das nach und nach strukturiert, nachdem wir festgestellt haben, dass es ohne Struktur nicht mehr funktioniert. Das ging noch am Anfang aber als 2000 bis 3000 Personen pro Stunde ankamen, war das nicht mehr möglich.

Wo kamen die Geflüchteten genau an?
Überall, wo ein Zug aus Österreich angekommen ist, sind Geflüchtete ausgestiegen. Die meisten kamen aus Österreich. Ein paar aus Italien. Sie wurden von der Bundespolizei in Empfang genommen und dann über den Flügelbahnhof auf Busse verteilt.

Was war das für eine Stimmung?
Die Stimmung war sehr angespannt am Anfang, weil niemand wusste, ob man das stemmen kann. Es ist schon was anderes, ob man 3000 Menschen am Tag oder 3000 in der Stunde zu versorgen hat. Aber es war immer gute Stimmung unter den Helfer*innen.

War ein komisches Bild, als die Polizei und die Antifa plötzlich zusammengearbeitet haben…
Ja, es war ganz interessant. Auf Demos treffen sie unliebsam aufeinander und auf einmal mussten sie Hand in Hand arbeiten und das hat prächtig funktioniert.

Wie ging das mit der Hilfe weiter?
Die Polizei hat gemerkt, es ist tolle Arbeit, die wir da machen und, dass sie ohne uns aufgeschmissen wären. Am Anfang hat die Polizei sogar Essen aus eigener Tasche bezahlt. Die haben geschaut, dass sie wenigstens für die Kinder Brezn haben.

Die Polizisten haben das selbst gezahlt?
Ja, manche Polizisten haben mir das mitgeteilt, dass sie das machen mussten. Dann haben wir uns mit unserem System aus freiwilligen Helfern in der Schalterhalle eingenistet.

Wie würdest du jetzt die Situation beschreiben, seitdem die Grenzen zu sind, damit keine Geflüchteten mehr nach München kommen?
Beschämend für die Politik in München. Die Kapazitäten sind da, ich habe viel Kontakt zu den Außenstellen in München. Da sind diverse Notunterkünfte komplett leer. Am Hauptbahnhof gibt es noch die Strukturen der freiwilligen Helfer*innen. Für mich ist das nur ein Machtspielchen der Politik gerade. Meine Meinung ist, dass wer Waffen in Länder exportiert, muss auch mit Folgen rechnen.

Hast du das Gefühl, dass sie die Leute bewusst nicht nach München lassen?
Ich weiß, dass Dornach komplett leer ist. 1400 Plätze leer. Erding ist auch nicht komplett belegt. Ich bin der Meinung, in München wären noch Kapazitäten, um Leute aufzunehmen. Und wir haben das Know-How, haben die Erfahrung, dass wir wissen, wie wir das managen können. Wir standen teilweise mit 1000 Geflüchteten alleine da, da haben wir das auch managen müssen.

Was ist wichtig für das Ankommen nach dem Willkommen?
Eine effiziente Aufklärung, wie es weiter geht. Es braucht eine gute Informationspolitik, dass gesagt wird „Passt auf, ihr seid angekommen und das und das wird euch in den nächsten Monaten erwarten“. Man kann den Angekommenen so eine Richtung zeigen, ja.

Werdet ihr gefragt, wie es weiter geht?
Ja, und wir können den Geflüchteten halt nicht klipp und klar erklären, was Sache ist. Weil wir es auch nicht wissen. Wir können immer nur das, was wir aktuell in Erfahrung bringen können, mitteilen. Die kommen also erstmal bei uns an, kriegen was zu Essen, was zu Trinken, Kleidung, werden registriert.

Warum machst du das alles?
Ich mache es, weil ich es gerne mache. Und weil ich aus einem sozialen Beruf komme, wo man so was beigebracht kriegt. Ich bin beim Roten Kreuz Sanitäter. Wenn man mal so eine Runde im Rettungsdienst mitgefahren ist, dann sieht man Dinge ganz anders. Dagegen ist das hier ein Klacks.

Was ist für dich beim Ankommen wichtig?
Freundlich empfangen zu werden! Wenn ich irgendwo hinkomme und da stehen schwer bewaffnete Polizisten vor mir, faseln irgendwas in einer Sprache, die ich nicht verstehe, würde ich natürlich auch eingeschüchtert sein. Aber wenn wir dastehen – wie wir das am Hauptbahnhof praktiziert haben- mit Dolmetscher*innen, die erklären, was weiter passieren wird, dass sie was zu essen und zu trinken kriegen, sich ausruhen können und dann in Unterkünfte gebracht werden, wo sie schlafen können, dann hat das eine ganz andere Wirkung. Die Arbeit der Dolmetscherinnen war sehr wichtig. Auch sie sind Freiwillige aus München. Sie sprechen die entsprechenden Landessprachen. Die haben eine sehr wichtige Aufgabe. Das ist unsere Kommunikationsebene mit den Gästen.

Welche Initiativen findest du in München wichtig?
Wir sind gleich vom Kreisjugendring unterstützt worden mit fachkundigem Personal, die uns bei der Organisation geholfen haben. Und die Caritas hat uns auch viel geholfen, hat für uns Helfer*innen, Supervisor*innen, einen Sozialpädagogen und einen Psychologen zur Verfügung gestellt. Mit denen konnte man sprechen, wenn einem das Ganze doch an die Nieren ging. Und sie haben uns ein Büro zur Verfügung gestellt.

Was hat das mit dir gemacht diese Erfahrung?
Ich interessiere mich seitdem mehr für Politik. Vorher war mir Politik relativ wurscht. Aber jetzt stelle ich fest, wie viel Einfluss man auf Politik hat. Ich war sehr überrascht, dass ich eine Einladung zum Empfang im Dezember von der Bayerischen Staatskanzlei bekommen habe.

Was kriegst du von den Angekommenen zurück?
Es gibt viele, die freuen sich, wenn sie einen wiedersehen. Man kriegt was zurück. Und wenn es nur ein Lächeln ist.

#Tempest

Neuhausen, Schwere-Reiter-Str. 2, Jutierhalle, 13. Juni 2020
Auschnitt aus dem Film #Tempest (Kooperation: Münchner Kammerspiele und Bellevue di Monaco)
Darsteller*innen: Karim Aldiri, Ehab Alkseiri, Lidia Doğan, Anna Köstler, Fadi Mattawa, Said Nazari, Shahab Nazari, Mbacke Ndiaye, Julius Papenburg, Mick Pietsch, Maria Anastasia Popa, Lia Fresno Vazquez, Pia Suzan Yaman,
Regie: Christine Umpfenbach
Filmregie: Suli Kurban
Drehbuch: Denijen Pauljević und Christine Umpfenbach
Kamera und Schnitt: Catherina Conrad
Kostüm: Melina Poppe
Ton: Elisa Maria Nadal
Foto: Judith Buss

Good News

Glockenbachviertel, Müllerstr. 2-6, Bellevue di Monaco, 23. Juni 2019

Film „Good News“ aus dem Theaterprojekt #LOVE von Christine Umpfenbach
Performer*innen: Alireza Ekhlasi, Emilie Fleury, Karim Aldiri, Lia Fresno Vazquez, Ahmed Mohamad, Sofia Mühle, Jakob Seeberger, Anna Pfundmair
Film: Suli Kurban
Foto: Andrea Huber