Das Unterland des Abendrots

Obergiesing, Am Bergsteig 2, 22. Mai 2019
Das Schloss zwischen Himmel und Erde. So wurde der Titel eines serbischen Märchens in der DDR übersetzt, wie ich vor kurzem erfahren habe. Eigentlich heißt es – Das Schloss, weder im Himmel noch auf der Erde. Als ich fünf Jahre alt war, bekam ich es vor dem Schlafengehen vorgelesen: nachdem eine Prinzessin von einem Drachen entführt wurde, machen sich ihre drei Brüder auf die Suche nach ihr und stellen fest, dass sie in einem Schloss zwischen Himmel und Erde festgehalten wird. Der jüngste Bruder opfert sein Pferd, er macht aus dessen Haut einen Riemen, der an einem Pfeil befestigt und mit dem Bogen auf das Schloss hinaufgeschossen wird. Dort hakt sich der Pfeil fest und der junge Mann klettert an dem Riemen hinauf. Im Hauptsaal sieht er seine Schwester – der Drache schläft, den Kopf in ihrem Schoß, während sie ihn laust. Sie gibt ihrem Bruder ein Zeichen und er schlägt dem Drachen in die „Zeugungskraft“. Das Ungeheuer stirbt. Es gibt viele Schätze und drei hübsche Mädchen im Schloss. Die beiden älteren Brüder sind nun neidisch darüber, dass der Jüngste der Held ist – sie reißen die Schätze, die Schwester und die Mädchen an sich und lassen ihn nicht hinunterklettern, indem sie den Riemen anzünden. Auf dem Weg zu ihrem Vater, dem König, begegnen sie einem Hirtenjungen und verkleiden ihn als ihren Bruder. Bevor die drei jedoch die hübschen Mädchen heiraten können, kommt der Jüngste auf einem Rappen angeflogen – den er im Stall des Schlosses gefunden hat -, gibt seinen Brüdern jeweils einen leichten Stoß mit der Keule in den Rücken, den Hirten aber schlägt er tot. Alles geklärt, alle glücklich.
Ich schlief unzufrieden ein. Es gefiel mir nicht, dass der Hirtenjunge sterben musste, dass er ein wehrloses Opfer war. Vor allem aber irritierte mich seine Passivität. Und die Schwester hätte ihrem Vater sofort erzählen müssen, dass ihr jüngster Bruder in einem Schloss in den Wolken zurückgelassen worden war. Ich vergaß die Geschichte bald und floh dreizehn Jahre später nach Deutschland, um dem Krieg zu entkommen, in dem Brüdervölker gegeneinander kämpften. Ich wollte nicht schießen und vor allem – wollte ich nicht erschossen oder totgeschlagen werden. Unterwegs dachte ich an das Gedicht eines jugoslawischen Poeten – Die Sonne des fremden Himmels wird nicht so warm sein wie die der Heimat. Die Sonne in Süddeutschland wurde immer heißer und ich verdrängte das Gedicht. Zwei Jahre später hörte ich vom Buch eines deutschen Geschichtsphilosophen – Der Untergang des Abendlandes. Zwei Mal s, an den Enden zweier aufeinander folgenden Wörter. Die Melodie und der Rhythmus gefielen mir, es klang mysteriös, wie ein Geheimspruch, und der Titel ging mir in einer endlosen Schleife durch den Kopf. Ich fragte mich, ob meine Heimat auch zum Abendland gehörte – denn dort schien alles unterzugehen-, und ob ich in Deutschland heimatlos und orientierungslos bleiben würde, unfähig mit Menschen zu kommunizieren, ohne die Möglichkeit zu arbeiten oder zu studieren.
Achtzehn Jahre später durfte ich wieder nach Serbien fahren, der Krieg war längst vorbei. Dort sprach ich Serbisch mit deutschem Akzent, konnte mich an meine Kindheit nicht erinnern und erkannte keinen einzigen Menschen. Ich fuhr zurück nach Deutschland und sprach Deutsch mit serbischem Akzent. Auch hier erkannte ich keine Menschen und fragte mich, was ich in den achtzehn Jahren eigentlich gemacht hatte – außer mich mit Sprachen zu beschäftigen. Ich brachte alle meine Bücher in den Keller hinunter und wartete. Eine Zeit lang passierte nichts. Bis mir das Märchen wieder einfiel – Das Luftschloss, wie es in der neueren deutschen Übersetzung heißt. Ich bin weder im Himmel noch auf der Erde, ich habe weder ein Zuhause noch habe ich keins. Ich wurde nicht entführt, ich bin kein Drache, ich habe keine Geschwister, ich bin kein Held. Ich bin der Geist des Hirtenjungen, der in das Schloss zwischen zwei Welten hinaufgeklettert ist. Keine Schätze, keine Mädchen, und auch keine bösen Brüder. In der Gesellschaft eines toten Drachen ohne Zeugungskraft.

Text: Denijen Pauljević
(entstanden im Rahmen des „Acht Mal Ankommen“- Festivals. „wir machen das. jetzt“. / Erschienen in der Anthologie „Wir sind hier“ (Allitera)